Willkommen bei Klaus Kirschbaum in Köln
Willkommen bei Klaus Kirschbaum in Köln

Ostermontag

"Ja, Klaus, wo kommst du denn her?" Ich treffe meine Tante im Eingangsbereich des Seniorenheims. Dort sitzt sie mit etlichen gleichaltrigen Damen auf einem der drei roten Sofas, die Rollatoren in Reichweite.

"Aus Köln, wie immer", so stets meine Antwort, wenn ich meine 96-jährige Tante Rosemarie in Dinslaken am Niederrhein besuche ... jede Woche einmal, seit jetzt acht Jahren. Davor besuchte ich sie in ihrer Doppelhaushälfte, auch einmal in der Woche. Seitdem sie ihren Wagen (vorsichtshalber) in der Garage ließ, war ich dann dran mit dem Wocheneinkauf ...

 

Nun gibt es doch schon gewisse Rituale ...

 

"Wie geht es dem Kleinen?"

"Wie geht es deiner Mutter?"

"Welcher Tag ist heute?"

"Habe schon lange nichts mehr gehört von Roswitha, ruf sie doch mal an!"

 

Natürlich ist es ein Problem, wenn der einzige Besuch in der Woche sich schließlich verabschieden möchte. Problematischen Abschiedssituationen wie "Bleib doch bitte ... sonst brauchst du nie mehr wieder zu kommen ...", müssen entschärft werden. Daher habe ich mich entschlossen, nur noch um 10.30 h zu kommen. Denn um 12 h ist es Zeit, den Speisesaal aufzusuchen! Das ist der Trick! Essen muss sein!

 

Stets kamen wir dann am kleinen Speisesaal im 3. Stock auf dem Weg zum Aufzug vorbei. Dort essen die Heimbewohner der Etage, die gefüttert werden müssen, nein, nicht 'füttern' ... 'ihnen wird das Essen gereicht', so habe ich gelernt. Jede Woche gab es dann den gleichen Wortwechsel ...

"Da sitzen sie, die Alten, die mit ihren weißen Haaren!"

"Weiße Haare hast du ja auch schon. Und wenn du mal alt bist, dann sitzt du auch da!"

"Wie alt bin ich denn?"

"96"

"Dann werde ich auch100!"

Dann haben alle, die das mitbekommen haben, gelacht und wir fuhren mit dem Aufzug ins Erdgeschoss, zum Speisesaal.

 

An eine besondere Situation erinnere ich mich gern. Es war in den Jahren, in denen sie noch in ihrem Elternhaus wohnte. Damals musste ich mich noch lediglich um Finanzen und ums Einkaufen kümmern. Sie zeigte mir irgendwann das Tagebuch ihres Vaters, meines Großvaters, Peter Kirschbaum. Diese Schrift zu entziffern bereitete mir Probleme. Als ich beim Studium der vielen Kapitel den 24. April 1916 fand, es war der Ostermontag, hatte ich meine Tante gebeten, mir doch einige Seiten für mich mit der Schreibmaschine abzuschreiben - und sie hat es wirklich für mich abgetippt! Hier das Original:

 

"Was es heißt: Wir liegen vor Verdun, wissen wir seit Anfang März aus den Tagesberichten der O(beren). Heeresleitung – was es heißt, hinaufmarschieren zur Höhe 304 – toter Mann – Avoncourt sur Malancourt  – das kann uns einzig und allein der Ostermontagabend klar und schaurig vor Augen führen . . .

Die Nacht ist sternenklar und am östlichen Himmel erscheint glutrot die Sichel des letzten Mondviertels.

Wir sind allein auf unseren Führer angewiesen – den Struppigen, der seine Gefreitenknöpfe nicht mehr mit vollem Recht trägt, da er erst heute zum Uffz. (Unteroffizier) befördert wurde . . .

Über Wiesen geht es hin und Bäche, durch Granatlöcher und zerschossene Laufgräber – immer weiter in die Nacht hinein – und nach kurzen Pausen – stundenlang – bis wir auf den sog. Bohlen- auch Bayernweg gelangen. Ein gut ausgebauter Bohlenweg, der sich 3 – 4 Stunden lang zwischen den Sümpfen und Morasten dahinzieht – der hat Arbeit gekostet – vielleicht eine Riesenarbeit unserer nie und nimmer zu verachtenden Schippers. Der Damm ist nicht zu ersetzen für Artillerie und Feldküche, Munitionszufuhr etc. und vor allen Dingen leistet er unseren schwerbepackten Feldgrauen nicht zu bezahlende Dienste – so auch uns. Etwa 10 km vor der eigentlichen Stellung benennt sich unser Bohlendamm zu unserem Stolz „Preußenweg“, ein Zeichen, dass auch unsere preußischen Schippers das Ihrige vor Verdun geleistet haben. Da verliert er sich im Wald – oder was mag das sein – so geisterhaft scheint’s im Mondlicht. Riesen ragen in die Lüfte – ach so entstellt – ohne Arme und Beine – mit zersplitterten Schädeln – es sind Riesen – steif und tot und stumm – Baumriesen des Waldes von Malancourt – tot – stumm – und nicht ein Seufzer – keine Klagen vernimmt man in ihren Kronen – in ihren Blättern – sie sind geknickt wie Strohhalme. Kronen sanken gebrochen zur Erde, mächtige Wurzeln ragen gen Himmel auf – und was decken sie mit ihren Kronen. Wie können sie steif und stark und aufrecht stehen, wo sich tote Helden - Freunde und Feinde – zum ewigen Schlaf sich unter sie gebettet. Es ist heilig und schaurig an diesem Ort – wir winden uns in Schlangenlinien hindurch – hinweg setzt sich unser Fuß über tote Helden und Riesen – und Kanonendonner blitzt jäh neben uns auf und es birst unter dem Gebrüll die Ruhe der Toten und der Nacht.

Durch das „Mittelgeräum“ gelangen wir zum „Hüttenlager“ – kurze Einkehr bei unserem früheren Bagageführer Uffz. Bertram, der uns mit allerhand Reden und mit einem guten Korn traktiert.

Und da naht sich der Graus . . .  Sind wir bis jetzt auf eigene Gefahr über Deckung den Laufgräben gefolgt, so zwingt uns die größer werdende Gefahr, etwa 500 m von unserer Stellung den Laufgraben aufzusuchen. Hinein mit frohem Wagen – hinein bis über die Stiefel in den Schlamm, der Schlamm, der in den 4 Regenbogen vorher dünnflüssig bis an den Bauchnabel reichte, ist in den 2 Tagen Sonnenschein etwas zusammengesackt – man sinkt nur bis an die mit Zeltbahnstoff höher umwickelten Enden der Langschäfte hinein in die zementene Matsche – ha – hinein geht’s – aber nicht hinaus. Zum Durchwaten der Strecke von 1.800 m gebrauchen wir etwa 2 Stunden. Dabei habe ich mein wohlverpacktes Komißbrot und meinen Spaten verloren. Ist mir alles gleich – wir sind hinaus aus der Hölle – schaurig war’s im Reich der toten Riesen, das wir durchquert haben!

Wir sind in dem, was man unsere Stellung nennt. Bei unserem Abmarsch um 9 Uhr abends wussten wir’s noch nicht – jetzt da es 4 Uhr morgens – 7 Stunden – durch Tod und Hölle marschiert – am Ostermontag 1916."

 

Meine Tante und ich schauten uns an. Wenn damals etwas schief gegangen wäre - Millionen junger Menschen sind ja damals sinnlos verheizt worden - dann gäbe es uns und unsere Familien wohl nicht. Werde den Augenblick nicht vergessen, wie wir uns da still ansahen ...

"Dann wäre ich ja mit meiner Mutter allein aufgewachsen," überlegte sie.

"Aber ohne deinen Vater wärest du doch gar nicht geboren worden," gab ich zu bedenken. Doch das wischte sie beiseite. "Dann hätte ich einen anderen Vater gehabt," stand für sie fest. Nun gut, dachte ich mir, so kann man das auch sehen ...

 

Kaum zu glauben, dass heutige EU-Kritiker von den Schrecken der damaligen Zeit etwas wissen.

 

Das war schon nicht leicht, als meine Tante nicht mehr allein in ihrem Haus wohnen konnte. Hatte sie noch Silvester nachmittags zuhause besucht. Am Neujahrsmorgen kam dann der Anruf, dass sie morgens in der Frühe auf dem Weg zur Toilette gestürzt sei. Der Pflegedienst hatte sie gegen 9 h morgens in der Diele gefunden. Ihre Körpertemperatur war schon stark gesunken. Waren es 28° gewesen? Extrem! Ich weiß es nicht mehr. Nun lag sie in Oberhausen in einer Klinik im Koma. Und die zuständige Ärztin deutete an, sie könne nicht einschätzen, ob sie überleben werde. Also telefonierten wir jeden Tag ... Am fünften Tag schließlich hieß es, sie sei wieder wach. Also besuchte ich sie - etliche blaue Flecken hatte sie vom Sturz, schlimm sah ihr Gesicht aus. Die zuständige Krankenschwester klärte mich auf: "Sie ist ja eine ganz Liebe, Ihre Tante! Wissen Sie, was sie als erstes gesagt hat, als sie wieder aufgewacht ist?" - "Keine Ahnung! Schmerzen?" - "Nein, ganz im Gegenteil: 'Ich will 'ne Flasche Bier!' ..." Das kann ich nicht glauben. Schließlich kenne ich ihren Speiseplan - ich kaufte ja seit Jahren einmal die Woche ein: Da war nie Bier bei. Jede Woche gab es den 6-er-Pack Wasser im Liter, die gute Standard-Fleischwurst, den Standard-Gouda, den Moselwein (lieblich) in der Literflasche, die Weizenbrotscheiben, Butter, Marmelade ... und bitte keine Abwechslung! Es reichte ihr schon, wenn der Essensservice jeden Mittag andere Mahlzeiten brachte. 

Als der behandelnde Arzt mir sagte, dass sie auf keinen Fall mehr allein in ihrer Doppelhaushälfte bleiben darf ("das wäre Selbstmord"), musste ich einen Platz in einem 'Seniorenheim' suchen.

Und da war sie nun. Noch wochenlang hat sie gefragt, wann sie zurück könne in ihr 'Elternhaus'. Aber mit der Zeit - und mit Hilfe von wirklich professionellem Personal hat sie sich dann dort auch wohlgefühlt. Wohl auch, weil sie merkte, dass es anderen "Alten" wohl schlechter ging als ihr.

Es wurde mit der Zeit immer etwas beklemmender, sie zu erleben. Sie sammelte alles, was an Zeitungen auslag. Nichts durfte ich wegwerfen. Also dünnte ich ihre Vorräte heimlich aus. Konnte sie sehr gut ablenken! Wenn ich ihr jede Woche neue Süßigkeiten mitbrachte, dann sagte sie stets, dass sie ja nichts Süßes mag. Nach einer Stunde hatte sie immer schon eine Menge verputzt. Und bestritt es.

Es war ein immer bedrückenderes Gefühl, sie alt werden zu sehen. Die Zipperlein häuften sich. Als sie anfing, krumm den Rollator zu schieben, konnte ich das nicht verhindern. Sie hielt mit der linken Hand den linken Griff fest, lag aber mit dem rechten Arm auf dem rechten Griff. Ging also total schief. Davon konnte ich sie nicht abbringen. Leider hatte das böse Folgen für ihre Wirbelsäule. Die Schmerzen häuften sich mehr und mehr. Und die Unzufriedenheit über ihren Zustand ebenso. Eines Tages beschloss sie dann aus heiterem Himmel, ihre Medikamente nicht mehr nehmen zu wollen. Mit fatalen Folgen ... Schmerzen, die nur noch mit den entsprechenden medizinischen Gaben zu lindern waren - nach drei Wochen war sie tot, ohne wieder richtig zu Bewusstsein zu kommen.

Für uns stellte sich die Frage: Wie soll jetzt die Beerdigung aussehen? Fast alle Freundinnen von ihr waren längst gestorben, die wenigen Überlebenden konnten kaum noch gehen ... Aber wir haben im kleinen Kreis eine originelle Feier am Grab gehabt, weil ich eine ebenso originelle Schwester habe. Sie kannte noch mehr als ich ihre Eigenheiten: Kroatzbeere (ein Likör), Piccolöchen und andere originelle Genüsse wurden gereicht und 'Dönekes' aus der Vergangenheit der Verblichenen ausgetauscht ... ein lockeres Abschiednehmen, bei dem die anwesenden Familienmitglieder und ehemaligen Nachbarn auch lachen durften.

 

Mein Beitrag lautete:

 

Meine Großeltern ruhten auf dem Friedhof an der B8 in Dinslaken - ohne Grabstein. Der sollte erst nach Rosemaries Tod angeschafft werden. Schließlich überrede ich sie, doch jetzt schon einen Grabstein anfertigen zu lassen. Als sie schließlich einverstanden und der Grabstein aufgestellt war, zeigte ich ihr ein Foto des Grabes, weil sie kaum noch gehen konnte.

"Was steht auf dem Grabstein? Kirschbaum? Dann zahle ich dafür nur die Hälfte, denn den kannst du ja auch noch gebrauchen. Später, wenn du einmal stirbst." Mein erster Gedanke damals: Sie ist gar nicht dement, sie hat mich die ganze Zeit nur verarscht ...

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© Klaus Kirschbaum